In den 80er Jahren hätte man nicht erklären müssen, wer Manès Sperber war. Er erreichte mit der Romantrilogie «Wie eine Träne im Ozean» und mit der dreiteiligen Autobiographie «All das Vergangene …» eine breite Leserschaft. Auch seine kritische Adler-Biographie wurde stark beachtet. Mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt er 1983 höchste öffentliche Anerkennung und mit dem Georg-Büchner-Preis bereits 1975 die höchste Auszeichnung, die ein Schriftsteller im deutschen Sprachraum erwarten kann. Dass der engagierte Kämpfer gegen totalitäre Herrschaft und speziell gegen die Kompromittierung linker Ideale durch den sowjetischen Kommunismus gerade dann weniger gelesen wurde, als die Geschichte ihm Recht zu geben begann, ist weder ein ungewöhnliches Schicksal noch eine Tragik. Im Gegenteil. Heute eröffnet sich dadurch die Möglichkeit, ihn neu zu entdecken, ihn nicht mehr nur wegen des direkten zeitgeschichtlichen Bezugs zu lesen, sondern aus Gründen, die über diesen hinausweisen und die vielleicht deshalb bedeutender sind.
Sperber mit 7 Jahren und mit 20 Jahren, sein Lehrer Alfred Adler
Erinnerer und Philosoph
Sperber ist ein Erinnerer. Er lässt – abgesehen vom Kollaps der kommunistischen Regime – alle Ereignisse und Auseinandersetzungen dieses mörderischen und gleichzeitig hoffnungsvollen europäischen 20. Jahrhunderts aufscheinen – gegen Vergessen und Bewusstlosigkeit, gegen Fraglosigkeit und Gleichgültigkeit. Wie kaum ein anderer erzeugt er historisches Bewusstsein. Aber obwohl die Oberfläche vieler Schriften durch die Schilderung von politischen Ereignissen bestimmt ist, gibt es doch immer eine zweite Dimension, eine Ebene, in der es um grundlegende Fragen der menschlichen Existenz geht.
Verhaftung 1933 durch die SA in Berlin, Manès Sperber in der Mitte
Sozialistischer Demokrat
Sperber ist ein sozialistischer Demokrat. Sein Romanheld entkommt den ideologischen Verstrickungen und den Versuchungen totalitärer Macht. Sperber selbst vertritt seit dem Hitler-Stalin-Pakt einen dritten Weg – einen im Kern libertären Sozialismus, der die Harmonisierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens eng mit einer Verbesserung der materiellen Verhältnisse für alle verbindet und der ohne Einschränkung von Freiheit, aber auch ohne Zugeständnisse an rücksichtslose Gewinnsucht auskommen will. Diese Vision behält gerade nach dem Zusammenbruch der spätstalinistischen Gesellschaftsordnungen ihre Bedeutung; sie bildet nicht zuletzt ein Korrektiv zur Verwendung des Begriffs «dritter Weg», der heute für eine neoliberale Ausprägung sozialdemokratischer Politik steht.
Europäer
Sperber ist ein Europäer. Er steht für ein Europa mit einer grossen integrativen Kraft und gleichzeitig für ein starkes, unabhängiges Europa, das sich für den Frieden engagiert.
Sperber in 1930er Jahren in Paris, im Exil in Zürich an der Limmat ca. 1944
Mit den Söhnen Dan (links), Vladimiro (rechts) und seiner Frau Jenka im Tessin, ca. 1952
Rede im Kongress für Kulturelle Freiheit, im Jardin du Luxembourg
Couragierter Intellektueller
Sperber ist ein mutiger Mensch. Einer, der sich seit dem Zweiten Weltkrieg nie gescheut hat, auf jeden Opportunismus zu verzichten und seine Meinung gegen jeden noch so mächtigen Trend zu äussern. Als Alexander Neills Buch «Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung» am Anfang der 70er Jahre eine Million Mal verkauft wurde und alle wussten, dass man antiautoritär zu sein hatte, kritisierte Sperber die antiautoritäre Pädagogik – nicht aus einer Position, die autoritäre Prinzipien verteidigte, sondern vor dem Hintergrund einer in den 20er Jahren geführten Diskussion. Schon damals hatte Sperber eine nichtautoritäre Pädagogik vertreten, die viel höhere Anforderungen an den Einzelnen und an die Gemeinschaft stellt, als es bei Neill der Fall ist. In den 70er Jahren geriet Sperber mit seiner Position jedoch zwischen die Fronten. Dennoch blieb er bei dem, was ihm richtig schien – und gerade auch wegen dieser couragierten Haltung, die er ein Leben lang bewies, lohnt es sich, ihn wieder zu lesen.
Atheistischer Anwalt jüdischer Tradition
«Nicht religiös und nicht ein Israeli – was bin ich denn für ein Jude?» Diese Frage aus Sperbers Schrift Mein Judesein deutet an, dass seine jüdische Identität keine einfache ist. Sperber hat sich, mit Ausnahme der Jahre seines kommunistischen Engagements, zeitlebens zum Judentum bekannt, obwohl er sehr früh zu glauben aufgehört und einen Weg beschritten hat, der in mancher Hinsicht die Negation des jüdischen Ausgangspunktes war. Die verschiedenen Facetten jüdischer Identität, in die seine Entwicklung ausmündete, erschliessen sich aus vielen Texten zum Thema: Es geht um jüdische Ethik und um das Bewahren einer reichen Tradition, um kritische Solidarität mit Israel und mit dem Zionismus, um das Begreifen der unfassbaren Gewissheit des Holocaust, um die säkulare Bedeutung der chassidischen Überlieferung, speziell des Messianismus. Klar ist, dass Sperber an der durch Geburt gegebenen und später bewusst gewählten und gewollten Annahme des jüdischen Erbes keinen Zweifel aufkommen lässt.
Dokumentarfilm «Manès Sperber – ein treuer Ketzer»
Dokumentarfilm «Manès Sperber – ein treuer Ketzer» von Rudolf Isler und Christian Labhart. Produktion: Filmkollektiv Zürich und ORF.